Ein Lob der Nost­al­gie in der Pandemie

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Die Corona-Krise wird beglei­tet von einer Welle der Nost­al­gie. Natür­lich geht mit ihr eine Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit einher. Doch nost­al­gi­sche Geschich­ten können auch als eine Art Apo­kry­phen des Grund­ge­set­zes helfen.

Zäsur /​Epochenwende/​Stunde null/​Wendepunkt/​Stunde der Exekutive/​Paradigmenwechsel/​Jahrhundertkrise – an einer selbst­his­to­ri­sie­ren­den Pan­de­mie-Phra­seo­lo­gie mangelt es derzeit nicht. Dabei ist die Begriffs­su­che einer­seits Aus­druck des Gefühls der Men­schen, unmit­tel­bare Zeit­zeu­gen eines buch­stäb­lich unge­heu­ren his­to­ri­schen Ereig­nis­ses zu sein, ande­rer­seits dem Over­kill an Bericht­erstat­tung geschuldet.

Auf­fal­lend dabei ist das bis dato erfreu­li­che Fehlen jeg­li­cher Abgrunds-Meta­pho­rik, hier­zu­lande war der Blick in den Abgrund als Alle­go­rie auf die schein­bar nahende finis Ger­ma­niae sowohl bei der Finanz‑, Banken- und Flücht­lings­krise, selbst bei geschei­ter­ten Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen, nahezu obli­ga­to­risch. Doch aus­ge­rech­net im Augen­blick echter Kon­tin­genz befreit sich das Land von seiner noto­risch-mor­bi­den Unter­gangs­lust und spielt im rou­ti­nier­ten Tur­nier­mo­dus, wie ehedem die Natio­nal­mann­schaft nach Wochen glimpf­li­chen Lager­kol­lers in der Sport­schule Malente mit einigen ersten Erfol­gen („flatten the curve“) und der aus­blei­ben­den Über­las­tung des Gesundheitssystems.

Eben noch eine „Gesell­schaft von Sin­gu­la­ri­tä­ten“ [1], wird nunmehr bereits sor­gen­voll ein „irri­tie­ren­der Kon­for­mis­mus“ [2] dia­gnos­ti­ziert. Eben noch kein Weimar-Ver­gleich zu steil, wird nunmehr mit wis­sen­schaft­li­cher Destink­tion auf die Unter­schiede zwi­schen der Spa­ni­schen Grippe und COVID-19 auf­merk­sam gemacht.

Die Rück­kehr des Staates ist eine im Grunde zutiefst unbun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Phrase – die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land hat sich dennoch in der Krise robust gezeigt. Dies geschah mit wenig Aplomb umso mehr auf Grund­lage von soweit wie möglich wis­sen­schaft­lich beleg­ba­ren Sicher­heits- und Bedro­hungs­nar­ra­ti­ven, nicht auf Kata­stro­phen­rhe­to­rik. Kein Zweifel: der zeit­lich begrenzte fak­ti­sche Entzug von ele­men­ta­ren Frei­heits­rech­ten hat mit dem „pie­ce­meal social engi­nee­ring“ des von der Bun­des­re­pu­blik gern in Anspruch genom­me­nen Karl Popper wenig zu tun. Die epi­de­mi­sche Ver­brei­tung lässt das Denken in tem­po­rä­ren Aus­nah­me­ka­te­go­rien zu. Ist dadurch der „Geist von Malente“ wieder in und der gefähr­li­che Geist Carl Schmitts aus der Flasche? Dagegen steht, dass der viro­lo­gi­sche Impe­ra­tiv mit dem obers­ten Gebot der Unter­bre­chung der Infek­ti­ons­ket­ten Leben jedes Ein­zel­nen – zuvor­derst der Schwächs­ten – soli­da­risch schützt. Keine abs­trakte Gefahr ist dabei hand­lungs­lei­tend, sondern eine reale, wenn auch laut­lose und unsichtbare.

Dagegen steht eben auch, dass es der bramar­ba­sie­ren­den „Quer­front gegen die Ver­nunft“ gerade nicht darum geht, vor einem schein­bar dräu­en­den „Hygie­ne­staat“ zu warnen, sondern diese schlicht ihr anti­ra­tio­na­les dau­er­em­pör­tes Mütchen kühlen möchte. Wer schon immer und je nach poli­ti­schem Stand­punkt mit par­ti­el­ler Wahr­neh­mung den Spät­ka­pi­ta­lis­mus respek­tive Staats­so­zia­lis­mus oder gar sinis­tere welt­um­span­nende Mächte tod­si­cher obwal­ten sah, wer die poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen und seine Reprä­sen­tan­ten als morsch und dege­ne­riert dif­fa­miert und einen schein­bar unver­meid­li­chen Sys­tem­sturz des libe­ra­len, demo­kra­ti­schen Rechts­staats schon länger her­bei­sehnt, der hat sich gewiss nicht erst seit dem Lock­down im Aus­nah­me­zu­stand mental ein­ge­rich­tet. Er ver­tei­digt seinen pri­va­ten per­ma­nen­ten Aus­nah­me­zu­stand gegen Ver­än­de­rung und ist ob der Hand­lungs­fä­hig­keit des Staates und von der Umsicht und Soli­da­ri­tät der großen Mehr­heit seiner Staats­bür­ger per­sön­lich gekränkt.

Umge­kehrt hängt nicht jeder Zweif­ler an der Ver­schwö­rungs­na­del und sendet vom Nar­ren­saum. Die Dis­kurse über die Pan­de­mie sind für Ambi­gui­tä­ten recht weit offen, das Streben nach Ein­deu­tig­keit kann auf ein totes Gleis führen, der Zufall und die Unvor­her­sag­bar­keit können nicht aus der Welt eska­mo­tiert werden, auch hier handelt es sich um reale, wenn auch nicht mess­bare Größen.

Es ist jedoch ein Popanz zu behaup­ten, diese Dis­kus­sion würde unter­drückt (von wem?), das Gegen­teil ist richtig: sie wird täglich öffent­lich dis­zi­plin­über­grei­fend x‑fach kon­tro­vers geführt. Sie ist nur zum Leid­we­sen einiger noch nicht bru­ta­li­siert – auch wenn es an Ver­su­chen dies zu ändern nicht mangelt. Ferner ist der Rechts­staat mit­nich­ten aus­ge­he­belt, sondern Gerichte spre­chen fast im Akkord Urteile über die Recht­mä­ßig­keit oder Unrecht­mä­ßig­keit der getrof­fe­nen behörd­li­chen Maß­nah­men im Rahmen des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes. Die Ambi­va­lenz aus­zu­hal­ten ist nicht einfach, ent­las­tend wirkt da für manche die Flucht in den Obskurantismus.

Par­al­lel zu diesen offen­sicht­li­chen Ent­wick­lun­gen, gibt es unter­schwel­lig ein sozi­al­psy­cho­lo­gi­sches Phä­no­men, das es wert ist, genauer betrach­tet zu werden. So herrscht derzeit im Gefühls­haus­halt der Bun­des­bür­ger ein über­ra­schend schlech­tes Klima für den Thymόs (alt­grie­chisch für Zorn/​Lebenskraft). Dabei handelt es sich um einen Begriff aus der grie­chi­schen See­len­lehre, die durch eine per­ver­tierte Anti­ken­re­zep­tion als Volks­zorn zum Schlüs­sel­be­griff des schrift­ver­stän­di­ge­ren, distin­gu­ier­te­ren Teiles des völ­kisch-neu­rech­ten Main­stream avan­cierte. [3] Mit genü­gend Thymόs im Tank soll dem Gemein­we­sen das Fürch­ten gelehrt werden. Es ist dabei noch nicht einmal die Schuld der Apo­lo­ge­ten des Begriffs, dass gegen­wär­tig der stark männ­lich kon­no­tierte Thymόs als Abbre­via­tur für eine Mélange aus Hedo­nis­mus, Selbst­über­schät­zung, Bockig­keit und Unge­duld gelten muss. Alle­samt Eigen­schaf­ten, die in einer Pan­de­mie nicht den besten Leumund haben. Oder anders gewen­det: Die Coro­na­krise macht die Gesell­schaft genau so wenig viril, wie der Handel und Verzehr von Wild­tier­glied­ma­ßen potent.

Der Kurs­sturz des von Platon stam­men­den Thymόs-Begriffs führt dabei kei­nes­wegs gera­de­wegs in den Phi­lo­so­phen­staat glei­cher Pro­ve­ni­enz, sondern zum home­ri­schen Epos der Odyssee. Nach Maßgabe der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung war der Sohn des Laërtes ein bür­ger­li­ches Indi­vi­duum, mithin der erste Citoyen der Geschichte. [4] Dem Bil­dungs­bür­ger Odys­seus gelang es, bei seiner Irr­fahrt mit List und Tücke die Unmit­tel­bar­keit der Natur zu über­win­den, dafür wurde Odys­seus von der Zivi­li­sa­ti­ons­krank­heit Nost­al­gie („nόstos“ steht im Grie­chi­schen für Heim­kehr und „algos“ für den Schmerz) heim­ge­sucht, ja man kann sagen, das Heimweh war seine Achil­les­ferse und das Mit­tel­meer war der Ursprungs­ort der Nostalgie.

Auch wir befin­den uns in einer erst­mals digital voll­zo­ge­nen Nost­al­gie­welle. Der viel­be­schwo­rene „Bruch mit dem gestern“  – davon zeugt die Play­list der Strea­ming­dienste – ver­bin­det sich mit den Sire­nen­klän­gen unserer Teen­ager­zeit. [5] Die ARD-Sport­schau sendete derweil Mythen der post­he­roi­schen Bun­des­re­pu­blik, so die „Was­ser­schlacht von Frank­furt“; der MDR zeigte (n)ostalgisch das 0:1 der DDR-Auswahl in Hamburg gegen die Helmut-Schön-Elf aus der glei­chen 1974er-Heim-WM. SPON – immer etwas aktu­el­ler – zog mit einem Live­ti­cker des WM-Finales 1986 nach. Gleich­zei­tig stieg nicht Kaiser Bar­ba­rossa aus den Tiefen des Kyff­häu­sers auf, aber immer­hin wurden die Stars und Stern­chen des BRAVO-Archivs unter der Über­schrift: „Nost­al­gie in dunklen Zeiten“ der Ver­ges­sen­heit ent­ris­sen. [6] Auf Insta­gram und Face­book werden immer noch Kind­heits­fo­tos geteilt, vor­nehm­lich in Schwarz-Weiß. Selbst die Gamer­szene bleibt nicht unver­schont und daddelt jetzt in der Sat­tel­zeit: Anno 2020 heißt das Com­pu­ter­spiel des Jahres „Anno 1800“. Und wer kein digital native ist, dem steht jetzt wieder das Auto­kino zur Verfügung.

Phä­no­me­no­lo­gisch betrach­tet, betä­tigt sich die Corona-Pan­de­mie als Agentin der Gegen­warts­schrump­fung [7], einem vom Phi­lo­so­phen Hermann Lübbe in die Debatte ein­ge­führ­ten Begriff, bei dem die soziale und tech­ni­sche Beschleu­ni­gung die Ver­gan­gen­heit zu einer Riesin macht, während unsere Gegen­wart mehr und mehr ver­zwergt. So gesche­hen im Früh­som­mer 2020, als der ersten Tage der Zwangs­ent­schleu­ni­gung bereits im Nor­ma­li­täts­mo­dus retro­spek­tiv gedacht wird. Hajo Schu­ma­cher schrieb in der Ber­li­ner Mor­gen­post: „Gut möglich, dass die The­ra­peu­ten der Repu­blik alsbald ein neues Krank­heits­bild dia­gnos­ti­zie­ren: Corona-Nost­al­gie.“ [8] Die Minia­tur seines Ber­li­ner Kol­le­gen Peter Huth „Gemüt­lich in der Apo­ka­lypse“ über die erste Zeit der Beschrän­kun­gen hat als Refe­renz eben­falls die Ver­gan­gen­heit: „Man feuerte den Grill schon an, bevor es däm­merte, zwi­schen Video­mee­tings ging man mit dem Hund oder spielte mit den Kindern.“ [9] Es ist eine veri­ta­ble Mit­tel­schichts­idylle [10], die hier hal­bi­ro­nisch aus­ge­brei­tet wird: die Rama-Familie mit Weber-Grill ganz ohne Zeitnotstress.

Jene Nost­al­gie ist nicht frei von Ver­het­zungs­po­ten­tial, man kann sich darüber lustig machen, wie über den Nippes in Omas Vitrine oder das Vinyl in Onkels Plat­ten­schrank. Natür­lich geht mit ihr eine Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit einher. Ein dieser Tage erschei­nen­des schön­geis­ti­ges Bänd­chen liest der Manu­fac­tum-Katalog-Lyrik die Leviten: „Wenn irgendwo noch so wie früher gelebt, geliebt und gear­bei­tet wird, besitzt das heute den Bei­geschmack von gut­bür­ger­li­chem Wohl­stands­glück. Da wird noch richtig gekocht! Da werden noch echte Zutaten ver­wen­det! Noch! Überall dieses ‚noch‛. Die Rhe­to­rik von der guten alten Zeit hat unsere Sprache und unsere Gedan­ken unter­wan­dert.“ [11] Sind die Erin­ne­run­gen gar mit starken Emo­tio­nen wie Lust oder Angst besetzt, so wirken sie gera­dezu als Kleb­stoff der Gedan­ken. [12] Doch Denken in der Zeit schafft nicht zwin­gend Leid. Jüngere For­schungs­er­geb­nisse der Sozi­al­psy­cho­lo­gie betonen in Abgren­zung zu frü­he­ren patho­lo­gi­schen Betrach­tun­gen die gesund­heits­för­dern­den Aspekte der Nost­al­gie, die im Ergeb­nis zu mehr Resi­li­enz gegen­über den Wech­sel­fäl­len des Lebens führen können. [13] Auch Odys­seus kam schließ­lich allen Wid­rig­kei­ten zum Trotz auf Ithaka an. Und Nost­al­gie ist längst nicht nur See­len­brot. Aus der Warte der Poli­ti­schen Bildung betrach­tet, ist die alte Bun­des­re­pu­blik, solange man nicht voll­ends dem Para­dies­my­thos auf­ge­ses­sen ist, kein schlech­ter Sehnsuchtsort.

Vor allem ist Nost­al­gie zuwei­len kon­ser­va­tiv, aber niemals reak­tio­när oder revo­lu­tio­när. Nost­al­gie und Reak­tion sind Gegen­fi­gu­ren. Der Reak­tio­när schwelgt nicht wie der Nost­al­gi­ker im Honig­mond – er fiebert in der Sonne. Beim ame­ri­ka­ni­sche Ideen­his­to­ri­ker Mark Lilla lässt sich der Typus wohl am besten stu­die­ren: „Der Reak­tio­när will nicht erin­nern, sondern in seiner Beschäf­ti­gung mit der Geschichte bloß die Distanz ermes­sen, die ihn vom Gewe­se­nen schei­det.“ [14] Goeb­bels Diktum, das Jahr 1789 aus der Geschichte zu tilgen, ist ein beson­ders extre­mer Fall. Gemeint war die Abkehr von west­li­chen Wert­vor­stel­lun­gen, von Men­schen­rech­ten, Libe­ra­lis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus. [15] Wie fun­da­men­tal unter­schei­det sich Goeb­bels Phan­tas­ma­go­rie vom tiefen Seufzer Tal­ley­rands, dass niemand ermes­sen könne, wie süß das Leben sein könne, der das Ancien Régime nicht gekannt habe. [16] Jeder his­to­ri­sche Ver­gleich hinkt, der zwi­schen dem fran­zö­si­schen Außen­mi­nis­ter und dem deut­schen Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter gleich auf meh­re­ren Ebenen, dennoch: Tal­ley­rand dachte bei seiner Epo­chen­ver­schlep­pung ans savoir-vivre. Goeb­bels dachte an eine ahis­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit, er war neu­ro­tisch fixiert auf den Bruch, dessen Heilung nur durch eine große „Tat“ erfol­gen könne. [17]

Der Reak­tio­när ver­spürt, um einen wei­te­ren Gedan­ken Mark Lillas auf­zu­neh­men, ähnlich wie der Revo­lu­tio­när den Drang zum Monu­men­ta­len. Dem Eklek­ti­zis­mus nicht abhold, durch­stö­bern auch heute viele den Papier­korb der „kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tion“ (die monoman wie sie war „reak­tio­näre Revo­lu­tion“ genannt werden müsste), um Stoff für ihre radi­kale Bewe­gung zu sammeln. Die lau­tes­ten Wort­füh­rer gegen staat­li­che Maß­nah­men üben sich in pseu­do­li­be­ra­ler Mimikry und stehen doch in einer zutiefst anti­li­be­ra­len Tra­di­tion. Kon­se­quen­ter ist da schon deren Ein­tre­ten gegen das „zer­brech­li­che und schwa­che Leben der Älteren“[18], schließ­lich fehlt welt­an­schau­lich zur katho­li­schen Sozi­al­lehre und pro­tes­tan­ti­schen Ver­zichts­ethik ganz zu schwei­gen von einem auf­ge­klär­ten Huma­nis­mus jeg­li­che Verbindung.

Die trös­tende Bot­schaft lautet: keine Trend­ver­schär­fung ist hier zu ver­mel­den, sondern viel­mehr eine Trend­ver­un­schär­fung. Der Tiden­stand des Popu­lis­mus war schon einmal höher. Galt nicht vor kurzem noch die Debatte um Iden­ti­täts­fra­gen als der große poli­ti­sche Game­ch­an­ger? In seinem 2017 posthum auf­ge­leg­ten Buch „Retro­pia“ warnte der bri­tisch-pol­ni­sche Phi­lo­soph Zygmunt Bauman vor dem Zeit­al­ter der rück­wärts­ge­wand­ten Utopie, die drei fatale Ori­en­tie­rungs­punkte hat: ad 1: zurück in den Mut­ter­leib; ad 2: zurück ans Stam­mes­feuer; ad 3: zurück zum Natio­na­lis­mus. [19] Zu Beginn der Pan­de­mie nannte Markus Feld­kir­chen den Rechts­po­pu­lis­mus ein „Luxus­pro­blem“, das ange­sichts des Virus schlicht dra­ma­tisch an Rele­vanz ver­liert. [20] Jan Ross, noch den von ita­lie­ni­schen Bal­ko­nen gesun­ge­nen Verdi im Ohr, schluss­fol­gerte, dass dieser Patrio­tis­mus auf gänz­lich andere Res­sour­cen der con­di­tio humana zurück­greife als der dumpfe Natio­na­lis­mus: „Für den Augen­blick hat die Corona-Krise auf eine humane, ent­gif­tete Idee des Natio­na­len frei­ge­macht.“ [21] Auch hier­zu­lande kommt der Begriff des Corona-Patrio­tis­mus mit immer grö­ße­rer Selbst­ver­ständ­lich­keit über die Lippen. Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land hat in diesem Zusam­men­hang sogar Gele­gen­heit, zum 71. Jah­res­tag des Grund­ge­set­zes die eher dürf­tige Freude zum 70. Jah­res­tag ver­ges­sen zu machen. Dabei können nost­al­gi­sche Geschich­ten als eine Art Apo­kry­phen des Grund­ge­set­zes helfen. Nicht rühr­se­lig als digi­ta­les Bie­der­meier oder prä­ten­tiös im Stil von Big govern­ment, sondern als funk­ti­ons­tüch­ti­ger Staat von Maß und Mitte.

 

 

[1] Andreas Reck­witz: Die Gesell­schaft der Sin­gu­la­ri­tä­ten. Zum Struk­tur­wan­del der Moderne. Berlin 2017.

[2] Paul Nolte im Inter­view mit der Frank­fur­ter Rund­schau vom 28. März 2020. https://www.fr.de/politik/corona-krise-gefahr-demokratie-interview-historiker-paul-nolte-13631157.html.

[3] Vgl. Gunnar Hind­richs: Thymos. In: Merkur 73 (2019), H. 811, S. 16–31.

[4] Vgl. Günter Figal: Odys­seus als Bürger. Hork­hei­mer und Adorno lesen die Odyssee als Dia­lek­tik der Auf­klä­rung. In: Zeit­schrift für Ideen­ge­schichte 2 (2008), S. 50–61.

[5] https://www.zeit.de/2020/18/musik-jugend-erinnerung-identitaet-erinnerungshuegel.

[6] https://bravo-archiv-shop.com/ein-wenig-licht-in-dunklen-zeiten.

[7] Hermann Lübbe: Gegen­warts­schrump­fung. In: Klaus Backhaus/​Holger Bonus (Hrsg.): Die Beschleu­ni­gungs­falle oder der Triumph der Schild­kröte. Stutt­gart 1998. 3. Aufl. S. 263–293.

[8] Hajo Schu­ma­cher: „Corona-Nost­al­gie, ein wohl­mög­lich neues Krank­heits­bild. Das Sehnen nach Tagen voller Ent­schleu­ni­gung.“ In: Ber­li­ner Mor­gen­post, 31.05. 2020, S. 1.

[9] Peter Huth: „Gemüt­lich in der Apo­ka­lypse.“ https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus209453979/Corona-Biedermeier-Gemuetlich-in-der-Apokalypse.html. Ver­öf­fent­licht am 13.06.2020.

[10] Der Begriff „Mit­tel­schichts­idylle“ wurde erst­mals von dem His­to­ri­ker Andreas Rödder im Zusam­men­hang mit den Maß­nah­men und sozio­lo­gi­schen Folgen der Corona-Pan­de­mie benutzt: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/logbuch_corona_2april2020.

[11] Kristof Magnus­son: Vorwort. In: Hanser Akzente H. 1/​2020: Nost­al­gie. S. 1–4. Hier S. 2.

[12] Ernst Pöppel: Gefühle – der Kleb­stoff des Denkens (Inter­view). In: Der blaue Reiter. Journal für Phi­lo­so­phie 10 (2004), H. 2. S. 70–76.

[13] Con­stan­tine Sel­ki­des et. al.: Nost­al­gia coun­ter­acts self-dis­con­ti­nuity and res­to­res self-con­ti­nuity. In: Euro­pean Journal of Social Psy­cho­logy 45 (2015), S. 52–61.

[14] So René Scheu in seinem sehr lesens­wer­ten Vorwort zu der deut­schen Über­set­zung: Mark Lilla: Der Glanz der Ver­gan­gen­heit. Über den Geist der Reak­tion. Zürich 2018. S. 9–14. Hier. S. 12.

[15] Vgl Karl Diet­rich Bracher: Stufen der Macht­er­grei­fung. Berlin u.a. 1974. S. 26.

[16] Michael Rutschky: „Früher war alles besser“. In: Merkur 36 (1982), S. 638–641. Hier. S. 638. Für die kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Beschäf­ti­gung mit der Nost­al­gie ist die Zeit­schrift Merkur grund­le­gend. Siehe: Tobias Becker: Eine kleine Geschichte der Nost­al­gie: In: Merkur 72 (2018), S. 66–73. Eine popu­lär­wis­sen­schaft­lich gute Annä­he­rung bietet: Daniel Rettig: Die guten alten Zeiten. München 2013.

[17] Vgl. Kurt Sont­hei­mer: Der Tat­kreis. In: Vier­tel­jahrs­hefte für Zeit­ge­schichte 7 (1959), S. 229–260.

[18] Wort­laut aus dem von meh­re­ren Pro­mi­nen­ten aus Politik, Kirche und Wis­sen­schaft initi­ier­ten Appell, das Leben älterer Men­schen nicht abzu­wer­ten. Abge­druckt in der FAZ am 23. Mai 2020.

[19]  Zygmunt Bauman: Retro­pia. Berlin 2017.

[20] Markus Fel­den­kir­chen: Luxus­phä­no­men AfD. In: DER SPIEGEL, Nr. 14, 28.3.2020, S. 23.

[21] Jan Ross: Captain Tom geht voran. In: DIE ZEIT, Nr. 18, 23.4.2020, S. 5.

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